Nadja aus Usbekistan hat heute kein Glück. Das neue Jahr 2017 hat gerade erst begonnen, und es ist richtig kalt, minus 15 Grad. Es schneit leicht. Doch die Straßen sind weitgehend geräumt.
Nadja drückt aufs Gas, sie kennt den Weg gut. Als Kurierfahrerin ist sie mindestens einmal in der Woche hier unterwegs. Mit den Gedanken ist sie schon zu Hause in Landshut, bei ihrem Mann, ihrer Tochter und dem Abendessen. Schaschlik soll es heute geben. Sie fährt 100. In einer knappen Stunde wird sie zu Hause sein. Feierabend, endlich! Abgelenkt schaltet sie das Radio ein, Charivari. So sieht sie die Schneeverwehung zu spät, die auf der Bergkuppe die gesamte Breite der Straße überzieht. Und sie fährt zu schnell, viel zu schnell. Doch Bremsen ist jetzt auch keine gute Idee mehr. Der weiße Lieferwagen gerät ins Schlingern, schwankt nach links und nach rechts.
„Slawa bog, wo will er hin? Welche Seite ist meine Seite? Hoffentlich kommt mir jetzt kein anderes Auto entgegen.“, denkt Nadja.
Glück im Unglück! Der Kleinbus dreht sich und schiebt sich mit dem Heck über die Leitplanke der rechten Straßenseite. Dort kommt er halb in der Luft über dem Straßengraben schwebend zum Halten. Nadja ist nichts passiert, aber einen ziemlichen Schock hat sie. Mit zittrigen Händen schafft sie es trotzdem, die Nummer des ADAC zu wählen. Leider spricht sie nicht sehr gut Deutsch. Obwohl sie die Strecke schon oft gefahren ist, hat sie keine Ahnung, wie all die Dörfer und Weiler in der Nähe heißen. Notdürftig gibt sie eine Beschreibung durch. Der Pannendienst verspricht Hilfe, macht aber klar, dass angesichts der allgemeinen Wetterlage mit einiger Wartezeit zu rechnen ist.
Nadja beruhigt sich etwas und macht sich daran, die Unfallstelle zu sichern. Sie zieht die orange Weste an, stellt das Warndreieck auf und steht eine Weile unschlüssig neben dem Auto. „Ob es abbrennen kann?“
Es ist erst 15 Uhr, und doch beginnt es schon leicht zu dämmern. Schrecklich kalt ist ihr. Dummerweise hat sie heute Morgen nur eine einfache Fließjacke und dünne Turnschuhe angezogen. Im Verbandskasten findet sie eine leichte, knisternde Decke. Seltsamerweise hilft die Goldfolie tatsächlich etwas gegen den Frost. Sie setzt sich trotz ihrer Bedenken in den Wagen und wartet. Eine Stunde, zwei Stunden. Ein paar Leute, die vorbeifahren, halten an und fragen, ob sie helfen können.
„Nein, nein“, antwortet Nadja, „Hilfe ist unterwegs. Dankeschön.“
Doch der ADAC kommt nicht. Sie sitzt nun schon seit drei oder vier Stunden hier. Ihre Zehen kann sie schon seit einger Zeit nicht mehr spüren. Ihre Lippen sind bereits ganz blau.
Wieder hält ein Auto an und zwei junge Männer steigen aus. Die beiden hatten vor zwei Stunden schon einmal angehalten. Nadja widerspricht nicht, als sich die beiden nun resolut zeigen:
„Sie sind ja immer noch da. Sie Arme, Sie kommen jetzt mit. Wir lassen Sie nicht hier sitzen. Da erfrieren Sie ja. Wir wohnen gleich ums Eck. Kommen Sie mit, Tee trinken. Okay?“
Ohne Widerrede steigt Nadja in das fremde Auto. Es ist ein Kleinwagen russischen Fabrikats, ein Lada Samara. Tatsächlich wohnen die beiden keine Minute entfernt. Durch tiefen Schnee stapfen die beiden quer durch einen Obstgarten auf ein kleines längliches Holzhaus auf Rädern zu.
„Kommen Sie, kommen Sie. Hier ist es warm.“, ruft einer der Männer Nadja zu, die etwas zögert.
„Vielleicht ist es ja keine besonders gute Idee, einfach so mit unbekannten Männern mitzugehen?“
Doch schnell beruhigt sie sich, als in dem kleinen Zuhause eine Frau bereits einen Tisch für 5 Personen deckt. Schlotternd und etwas unschlüssig steht sie noch in der Tür. Aber es sieht sehr gemütlich aus. Der Holzofen verbreitet eine wohlige Wärme und die Frau stellt ihr eine dampfende Schale Tee vor die Nase. Sie spricht sogar ein paar Worte russisch:
„Minja sawut Berit. Kak was sawut?” – “Nadja, otschin priatna!” “Wi atkuda? Is Rassii? Is Usbekistane? Atlitschna.“
Der Mann, der sich als Andreas vorstellt, telefoniert mit dem ADAC und gibt eine Adresse und Anfahrtsbeschreibung durch. In einer halben Stunde verspricht der Abschleppdienst vor Ort zu sein. Mittlerweile haben sich der zweite Mann und dessen Frau oder Freundin in dem Wagontschik eingefunden. Es gibt ein vegetarisches Abendessen mit Sojawürsten und kleinen kalten Salaten. Nadja findet die Sojawürste komisch, fühlt sich aber rundum wohl bei den freundlichen, lustigen Leuten. Sie taut im wahrsten Sinne des Wortes auf und beginnt lebhaft mit einem kleinen Vortrag auf Deutsch:
„Ist nie schlecht, auch für Vegetarier, wenn man richtiges Schaschlik kann. Ich verrate euch ein super Rezept aus Usbekistan. Jetzt passt mal auf: Das Wichtigste ist die Marinade…“