Da finde ich mich also auf einem bunten Teppich sitzend wieder und singe:
“Hare Krishna. Krishna, Krishna. Hare Rama. Hare, Hare…”
Neben mir knien zehn mehr oder weniger musikalisch begabte Frauen und Männer aller Altersstufen, die mit verschiedenen Schlaginstrumenten einen Rhythmus zu halten versuchen. Einige sind in Alltagskleidung hier, andere tragen weiß, und wieder andere haben Tücher um sich geschlungen.
Das nächste Lied beginnt, diesmal mit einem ungarischen Text. Würde ich nun die Augen schließen und könnte all die Saris, den glitzernden Altar mit dem dunkelhäutigen Vishnu und seiner Gemahlin Lakshmi, die Blumenketten und die Frau, die den kleinen Göttern mit einem Yakschwanz Luft zuwedelt, nicht sehen, so wäre es ebenso gut möglich, dass ich in der Gruppensitzung einer Musiktherapie gelandet bin. Schnell zwicke ich mich in den Oberschenkel und öffne die Augen. Nein, verrückt bin ich nicht. Oder etwa doch? Was mache ich nur bei den Hindus in einem Ashram in Pécs?
Für eine Erklärung muss ich zum Mittwoch zurückkehren:
Voller Energie hüpfe ich an diesem Tag bereits um 5.30 Uhr (!) aus dem Bett. Aus irgendeinem Grund weiß ich einfach: Heute werde ich meiner Einsamkeit und dem drohenden Muskelschwund ein Ende bereiten.
Ein Yogastudio scheint mir der geeignete Ort zu sein, um Körper und Geist zu trainieren und dabei auch noch Leute kennenzulernen. Der Plan geht auf, denn Lehrerin Klára zieht mich sofort in den hellen Raum, der sich in der Apáca Utca befindet. Die grauhaarige Frau hat eine lebhafte Ausstrahlung und spricht ausgezeichnet Englisch.
Der Unterricht in Iyengar-Yoga ist ungewohnt. Wir vollführen unglaublich komplizierte Verrenkungen an der Wand.
„Move this muscle. And now, move that muscle.“, gibt Klára sehr präzise Anweisungen, während sie zwischen uns hin- und hereilt und Positionen korrigiert.
„Sorry, Klára, I am not sure if I really do have all those muscles you are talking about?“
“ES OS*!“ brüllt sie mich auf Ungarisch an. Ein Samuraikrieger hätte es nicht besser gekonnt.
Vor Schreck drohe ich aus meiner Stellung zu kippen.
„Anything wrong?“
„No, no. Absolutely not. That’s it! That’s it!“, lobt mich Klára überschwänglich.
Resolut schiebt sie mich nach der Stunde neben Ingrid und gibt der rotblonden Englischlehrerin mit dem freundlichen, runden Gesicht eine knappe Anweisung:
„Be her guide!“
„Arme Ingrid!“, denke ich mir. „Jetzt hast du mich an der Backe!“
Mit netten Worten und der Wegbeschreibung zu einem Ashram werde ich verabschiedet. Dort kann man für wenig Geld ein vegetarisches Mittagsmenü zu sich nehmen.
Auf das Schlimmste gefasst betrete ich am nächsten Tag eine geräumige Altbauwohnung, keine zwei Straßen von meiner Wohnung entfernt. Nach einer schnellen Begrüßung durch Agnes und Gyöngyvér wird mir schlicht eine Schale Suppe, ein Reisgericht mit überbackenem Gemüse und ein kleiner Kuchen vor die Nase gestellt. Die anderen am Tisch sehen völlig normal aus, sind offensichtlich Angestellte aus der Stadt, die hier die Gelegenheit wahrnehmen, günstig und vor allem gut zu essen. Nach zwanzig Minuten stehe ich wieder auf der Straße und bin fast etwas enttäuscht. Einen Ashram hatte ich mir irgendwie spannender vorgestellt.
Am nächsten Tag bin ich wieder da, das Prozedere wiederholt sich. Dann aber sitzt plötzlich Elisabeth neben mir, die zusammen mit Agnes den Ashram leitet. Sie hat lachende Augen, glatte Gesichtszüge und trägt ihre langen, weißen Haare zu einem Zopf gebunden. Sie lädt mich zur offenen Tempelstunde am Abend ein. Ich gebe mich zurückhaltend, denn…
Die ungarische Hitze hat eine kurze Pause eingelegt. Sie holt Atem für die nächste Runde. Nach dem Wochenende soll es wieder richtig heiß werden. Die angenehmen Temperaturen des heutigen Tages möchte ich für eine Besteigung des Mecsek nützen. Der Berg im Norden der Stadt ist ein markantes Wahrzeichen, darauf thront nämlich der Fernsehturm. Voller Energie klettere ich nach dem Mittagsmahl durch einen mediterranen Wald auf steilen Pfaden höher und höher.
„Muskelschwund, nun hast du endgültig verloren!“, erkläre ich mich selbst zur Siegerin über meinen inneren Schweinehund und klopfe mir anerkennend auf die Schultern…
Jäh erwache ich aus meinen Erinnerungen, weil mein linker und mein rechter Fuß gleichzeitig eingeschlafen sind. Verstohlen versuche ich, im Sitzen meine Beine auszuschütteln und einen konzentrierten Gesichtsausdruck zu wahren. Immer noch befinden wir uns im Kreis. Tomaz liest aus der Baghavad Gita vor. Langatmig referiert er auf Ungarisch über das Karma und die Auslegung der einzelnen Verse des dritten Kapitels. 18 Verse hat er bereits besprochen, 22 sollen es werden.
„Meine Fresse!“, denke ich völlig antikarmisch.
Wie lange soll das noch gehen? Ich bin doch schon mindestens seit zwei Stunden hier. Verstohlen linse ich zur Tür.
Sollte ich vielleicht einen Ohnmachtsanfall vortäuschen?
Nein, zu viel Drama und Elisabeths Tochter Gyöngyver, die sich mit spirituellem Namen Asvini nennt, hat offensichtlich großen Spaß an mir. Immer wieder grinst sie mich breit über das heilige Buch hinweg an. Ich finde sie auch sehr nett.
Innerlich verfluche ich mich auf das Übelste (dafür werde ich wohl mindestens zwei Extrarunden im Hamsterrad der Reinkarnationenen drehen müssen), dass ich nach der Wanderung noch neugierig war und wieder den Weg zum Ashram einschlug.
Das ungarische Wort ‘vegetáriánus’ in Tomasz’ Sermon lässt mich nun aber aufhorchen, das kenne ich mittlerweile nämlich.
“Menschen soll man nicht töten, das ist das schlimmste Verbrechen.”, übersetzt meine neue Freundin für mich auf Deutsch.
“Auch Tiere darf man nicht töten, darum soll man Vegetarier sein.
Am wenigsten schlimm ist es, Pflanzen zu töten.
Um diese Tat zu sühnen, muss man von dem zubereiteten Essen für die Götter opfern.”
Gyöngyver alias Asvini macht eine kurze Kunstpause, strahlt mich an und flüstert mir nun verschwörerisch ins Ohr:
“Das ist das Beste, was der Kartoffel passieren kann!”
“Lecko mio**, eine spirituelle Kartoffel!”, kalauert es in mir.
Auf der Stelle bin ich versöhnt mit meinem Hiersein.
“Nichts ist Zufall!”, sagt Gyöngyver wenig später und drückt mich zum Abschied fest an sich. „Richtig!“, grinse ich in mich hinein.
So habe ich wenigstens einen guten Titel für diese Geschichte.
Danke, Ihr lieben, ungarischen Hindus vom Ashram in Pécs. Es ist sehr schön bei Euch.
Namasté und Haribol!
* Richtige Schreibweise: ‘Ez as’.’That’s it! – Das ist es!’
** Bayrisch-italienischer Ausruf des Erstaunens
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Und das war vorher: Nonne und Keller