Du stehst an der Tankstelle und lässt – etwas geistesabwesend – Benzin in deinen Autotank laufen. Der Stutzen steckt in der Öffnung, die Pumpe surrt und dreht sich, und du bist mit den Gedanken ganz woanders…
Vielleicht bist du in deinem Kopf noch in der Arbeit oder bereits auf dem Nachhauseweg. Vielleicht parkst du mental deinen Lada schon vor deinem Haus und wuchtest den Pappkarton mit den Einkäufen aus dem Kofferraum.
Halt, vorher mühst du dich natürlich – wie immer – mit dem Schloss ab, das leicht klemmt, weswegen du es auch so selten absperrst. Aber diese winzige Macke nimmst du gerne in Kauf. Das kleine, rote Fahrzeug hat als Gebrauchtwagen schließlich nur wenige Euro gekostet. Wer würde sich da beschweren, über die gute, russische Maschine, die so zuverlässig läuft!
Es sind die ersten frostigen Tage des Jahres, fast noch zu früh kam diese Kältewelle im September. Unruhig trittst du von einem Fuß auf den anderen. Deine Schuhe sind viel zu dünn, und auch deine Jacke passt nicht recht zum Wetter. Du wünscht dir, dass der Tank doch endlich voll werden möge. Aber ein paar Liter passen noch rein. Du zitterst und klapperst ein wenig mit den Zähnen. Die früh anbrechenden Nächte der dunklen Jahreshälfte gefallen dir nicht.
Da tritt ein Mann hinter dich, und irgendetwas scheint nicht zu stimmen, mit der Art, wie er sich grußlos nähert und schweigt, als er nah – zu nah (!) – neben dir und deinem Auto zum Stehen kommt. Der fehlende Sicherheitsabstand und auch die Abwesenheit von Höflichkeit lassen in dir ein Gefühl des Unbehagens aufsteigen. Nur sehr, sehr ungern möchtest du diesen Menschen direkt anblicken, möchtest jede – wie auch immer geartete – Provokation vermeiden und die Eskalation so lange wie möglich hinauszögern.
Und da du ihn nicht offen zu betrachten wagst, kannst du auch nicht sagen, wie dieser Mensch eigentlich aussieht, ob er groß oder klein ist, ob er breitschultrig ist oder schmalgliedrig, ob er seine Haare lang oder kurz trägt oder vielleicht sogar eine Glatze hat.
Doch irgendetwas muss geschehen, da der Mann immer noch einfach nur dasteht und starrt. Einer muss handeln. Nein, eine muss handeln. Und so riskierst du einen Blick, linst verstohlen zur Seite und siehst, dass er groß und muskulös ist. Doch wieder ist da eine leichte Irritation. Seine Haltung will nicht recht zu seinem trainierten Körper passen. Und so wirst du etwas mutiger, hebst den Blick und musterst ihn, der mit gebeugten Schultern dasteht, neugierig. Er wirkt zusammengesunken und sehr traurig. Auf seinem von einem Fitness-Studio geformten breiten Rücken balanciert wie eine kleine Murmel ein weißes, sanftes Jungengesicht. Aus seinen wasserblauen Augen fließt ein stummer Strom aus Tränen durch ein Labyrinth aus Sommersprossen, so dass seine Wangen im fahlen Neonlicht der Tankstelle zu glitzern beginnen.
„Alles klar bei Dir?“, fragst du ihn leise, jetzt nicht mehr verängstigt, sondern voller Mitleid.
Wie aus einer Trance gerissen zuckt der Junge im übergroßen Männerkörper erschrocken zusammen, so als ob er dich eben erst wahrnehmen würde.
„Da! Ja! Klar!“, antwortet er mit leichtem Akzent, während er versucht sich zu sammeln. Geräuschvoll zieht er eine Mischung aus Rotz und Tränen durch die Nase. Seine Augen kleben jedoch weiterhin an deinem Auto, dem Lada.
„Genauso einen hab ich auch gehabt… in Kasachstan… nur in Weiß und mit zwei Türen!“, das ist zumindest, was du zwischen seinen Schluchzern zu verstehen glaubst…
(Regensburg, Burgweinting)