Gleich nach der Grenze – diesem seltsam anmutenden bürokratischen Tanz, dem Hin- und Hergeschiebe zwischen mürrischen Entréezettelstemplern und ungeduldigen Reisenden – wird Marokko ruhig.
Straßenkehrer halten beim Fegen inne und winken einem zu. Wie fast jeder in diesem gastfreundlichen Land. Daumen hoch! Willkommen! Merhaba! Die LKW-Fahrer mit ihren nostalgischen Volvos und Berlinets hupen unsere alte Dame (unseren LKW Frau Scherer) freundlich an.
Büsche mit Beinen gehen vorbei. Halt, es sind die Frauen im Rifgebirge, die große Bündel frischer Zweige als Ziegenfutter nach Hause tragen. Sie lächeln uns schüchtern an. Teenager grüßen lässig.
Aufmerksamkeit bekommen wir immer, sei es, weil ein potentielles Geschäft gewittert wird oder weil der Gegenüber aufrichtig an uns interessiert ist. Oft werden wir auf Deutsch angesprochen: “Alles klar?”, auch schon mal ein “Servus” oder “Grüezi!”. Und mancher Marokkaner überrascht uns mit seinem Insiderwissen der deutschen Kultur: “Nina Hagen! Verrückte Nudel Viele Drogen! Viel-Verrückte!”. Die Sprachbegabung der Marokkaner ist legendär – und wo erlernt? – natürlich von den Touristen.
Seltsam mutet es uns zielorientierten Europäern an, dass Marokkaner oft scheinbar ohne Grund mitten in der Landschaft sitzen. In entspannten Posen stehen, hocken oder lümmeln sie an den seltsamsten Orten. Kein Platz ist so abgelegen, dass wir nicht in kürzester Zeit von Menschen umlagert wären. Junge Männer stehen einbeinig an einen Holzpfahl gelehnt, Grashalm im Mund. Im Rif sitzen sie wie Pilze im Wald und zischen den Wanderern zu “Kiff, Kiff!?”
Bei einer Autopanne in den Bergen erscheint eine gesichtstätowierte Schönheit wie aus dem Nichts, stellt sich neben uns (wir gestresst) und lächelt, spricht kein Wort. Wie sie gekommen ist, so verschwindet sie auch wieder.
Mädchen wie Mahnmale – zappelnde Wüstenfüchse, weiß wie Schnee, über den Kopf haltend.
In der Wüste ein sonnenverbrannter Nomade, lächelt wie in einer Zahnpastawerbung und – wieder Werbung – leert die ihm gereichte gut gekühlte Dose Coca Cola in einem Zug.
Kinder im Dorf, sind erst schüchtern, dann: “Stylo! Stylo!”
So vieles, was auch unverstanden bleibt: Ist die hübsche, nette Nomadenfamilie in ihrem Heima (Zelt) am Meer in Wirklichkeit auf der Flucht aus der West-Sahara? Oder ist der, vor der Familie warnende Araber mit Kampfhund, der fernöstliche Kampftechniken praktiziert, ein Rassist? Oft werden wir auch mit unseren eigenen Vorurteilen konfrontiert – meistens werden wir aber beschämt von der Großzügigkeit und Offenherzigkeit der Marokkaner. Und trotzdem ist nicht immer klar, ob unsere gut gemeinten Geschenke (Schokolade, Bonbons, T-Shirts) nur Gutes bewirken. Wecken diese Dinge Begehrlichkeiten? Wo landet der Müll? Was ist mit Zähneputzen? Ist das nicht auch eine Art Überheblichkeit, gönnerhaft Kugelschreiber auszuteilen? Zerstören wir eine nomadische Kultur? Welches Bild von Europa und Deutschland vermitteln wir unbewusst? Und ist unser Blick auf das angeblich einfache Leben nicht romantisch verklärt? Oder im Gegenteil: Sehen wir Flüchtlinge, wo in Wirklichkeit eine marokkanische Familie einfach nur Urlaub am Meer macht? Müssen wir die alte Frau bemitleiden, die im feuchten Zelt sitzt, oder ist sie nicht vielmehr zu beneiden, dass sie im Kreis ihrer Familie alt werden darf und als Oberhaupt respektiert wird? Ziemlich schwierig das Ganze!
Viele Urlauber umgehen das Problem einfach, indem sie den Kontakt zur Bevölkerung weitestgehend vermeiden, aber wir sind wirklich interessiert an Land und Leuten.
Manchmal möchten auch wir einfach nur unsere Ruhe haben, aber das geht in Marokko nicht wirklich. Also lassen wir uns besser darauf ein, gehen mit zum Tee trinken und verbringen ein bisschen Zeit mit Mohammed und Abdoula.
Zum Dank haben wir einen sicheren Standplatz für die Nacht, denn nun gehören wir zur Familie!